Psychologie Leseprobe

Psychologie

Warum spielen Menschen?

Psychologie klein&groß 12/2006 >>>

Im Laufe eines Lebens durchläuft der Mensch unzählige Entwicklungsprozesse, um vom Kleinstkind zum mündigen Erwachsenen zu reifen. Eine nicht zu unterschätzende Bedeutung kommt dabei dem kindlichen Spiel, aber auch Spielhandlungen im Erwachsenenalter zu. klein&groß traf den Spielpsychologen Prof. em. Dr. Rolf Oerter an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Gesprächsführung: Cornelia Matz

Dr. Rolf Oerter ist Professor für Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie und lehrte bis zu seiner Emeritierung an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die Psychologie des Spiels.

Herr Prof. Oerter, warum spielen Kinder?

Rolf Oerter: Spiel als Handlungsmuster gibt es in der Evolution schon bei Tieren – nicht nur beim Menschen. Es hat zunächst eine Vorbereitungs- und Übungsfunktion. Das Rumtollen und spielerische Kämpfen bei Jungtieren etwa ist eine Vorbereitung auf das spätere Kämpfen und Jagen. Der Mensch hat aber ein noch tieferes Motiv. Für ihn ist das Spiel vor allem Lebensbewältigung. Gerade Kinder brauchen Spiel, nicht nur zum Spaß, sondern vor allem, um Probleme darzustellen bzw. auszudrücken und zu bewältigen, mit denen sie auf andere Weise nicht fertig werden. Sie sind noch schwach und wenig fähig, in der sozialen Realität Probleme zu bewältigen.

Zudem sind sie einem hohen Sozialisationsdruck ausgesetzt und können viele ihrer Bedürfnisse und Wünsche nicht befriedigen. In dieser Situation bietet das Spiel einen Ausweg. Im Spiel können Kinder groß und mächtig sein und Erwachsenentätigkeiten ausüben. So können sie etwa Autofahren, als Lehrer fungieren oder fiktiv Kinder erziehen. Spiel ist ein ausgezeichnetes Mittel, um sich mit dem Erwachsensein auseinander zu setzen. Auch bei der Bewältigung aktueller Schwierigkeiten ist Spiel wichtig: Wenn ein Kind beispielsweise gerade bestraft wurde, kann es damit fertig werden, indem es eine Puppe oder einen Bären „bestraft“. Ähnliches gilt für Ereignisse wie Krankheiten oder einen Krankenhausaufenthalt.

Das Kind wechselt also den Realitätsbezug. Wie geht das vor sich?

Rolf Oerter: Zunächst begreift das Kind, was ein Gegenstand ist und benennt ihn dann. Wenig später (also bereits im 2. Lebensjahr) deutet es ihn schon um und erkennt, dass Gegenstände in ihrer Funktion anders bewertet werden können. Das Kind kann sich so in eine zweite Realität begeben, in der Dinge leicht verändert werden können. Dann wird etwa aus einem Stuhl ein Fahrzeug oder aus die Akteurin eine Prinzessin. So baut sich das Kind eine Fantasiewelt auf. Dies ist auch eine wichtige Funktion für die Begriffsbildung. Das Kind bildet von sich aus eigene Begriffe, indem es Dinge umdeutet. Es begreift, dass Begriffe menschliche Konstruktionen sind. Dies wird besonders deutlich am Beispiel des Fiktions- bzw. Symbolspiels, das seit einiger Zeit auch Als-ob-Spiel genannt wird.

Gibt es vor diesem Hintergrund Spielformen, die man in Kindertageseinrichtungen besonders häufig beobachten kann?

Rolf Oerter: Da findet man einerseits altersadäquates Spielzeug wie Figuren und Bausteine – am besten aus massivem Holz. Neben derartigen Konstruktionsspielen sind da noch Rollen- und Regelspiele. Regelspiele sind allerdings erst für Kinder ab sechs Jahren relevant, da jüngere Kinder noch Schwierigkeiten haben, Regeln einzuhalten. Spiele wie „Memory“ oder „Mensch… ärgere dich nicht“ sind jedoch bereits in diesem Alter möglich. Hinzu kommen Sportspiele, aber auch Spieltypen ohne Spielzeug, wie Tanz in koordinierten Bewegungen, aber auch Musik. Auch gemeinsames Singen und Musizieren ist eine Form des Spiels. Man sagt ja: „Ich spiele ein Instrument!“ Musizieren muss vom Kind jedoch als Spiel angesehen werden und darf kein stures Üben sein. Anders ist es bei Kindern, die schon früh in Hochleistungsbereichen Musik machen, da die Erfahrung des Fortschritts sie motiviert, intensiv zu üben.

Demnach müsste man einige Spieltypen im Kintertagesstätten-Alltag gänzlich vermissen…

Rolf Oerter: Das kommt auf das jeweilige Alter der Kinder an. Im Kindergarten- und Vorschulalter sind Gesellschafts- und Regelspiele nicht interessant. 2- bis 3-Jährige können nicht auf andere Rollen eingehen, weshalb Rollenspiele erst mit etwa 4,5 Jahren relevant werden, bei Geschwisterkindern übrigens etwas früher. Regelspiele finden erst ab dem Grundschulalter Anklang. Sie reichen von einfachen Gesellschaftsspielen bis zu komplizierten Strategiespielen, von denen Schach das wohl schwierigste ist. Im Sport ist das bekannteste Regelspiel das Fußballspiel, dessen Regeln zum Teil aber kompliziert sind, sodass sie GrundschülerInnen häufig noch nicht alle verstehen. Generell ist zu sagen, dass bei Kindertagesstätten, die auch ältere Kinder oder Jugendliche betreuen, das Spielrepertoire erweitert und altersadäquat ergänzt werden sollte.

Welche Merkmale vereinen alle Spieltypen – auch die Spiele des Erwachsenenalters?

Rolf Oerter: Es gibt vier allgemeine Merkmale, die alle Spielformen vereinen. So ist erstens allen Spielformen gleich, dass Spiel Selbstzweck. Es gibt also keinen Zweck außerhalb der Spielhandlung. Der Selbstzweck hat einen großen Vorteil aus motivationaler Sicht: Die Tätigkeit wird um ihrer selbst Willen ausgeübt, man geht in ihr auf und ermüdet nicht oder kaum. Daher setzt häufig im Spiel ein Flow-Erleben ein. Dies ist ein besonderer motivationaler Zustand, in dem die Handlung als fließend erlebt wird, das Zeitgefühl und die Grenzen zwischen Subjekt und Umwelt verschwinden.

Zweitens ist die Realitätstransformation zu nennen. Realität wird im Spiel umgedeutet. Am Deutlichsten ist dies natürlich im Als-ob-Spiel. Aber auch die anderen Spielformen, wie Rollenspiel und Regelspiel bewirken eine Realitätstransformation, was man schon an der emotionalen Beteiligung der Mitspielenden ersehen kann. Selbst motorische Spiele haben Realitätstransformation im Gepäck. Das zeigt sich auch in den motorischen Spielen Erwachsener, wie bei Sportwettkämpfen, aber auch beim Skifahren oder Surfen.

Ein drittes Merkmal ist die Wiederholung, ebenso wie das Ritual. Wiederholung hat bei allen Spielformen einerseits die Funktion der Übung. Man kann ein Spiel immer und immer wiederholen, solange, bis man mit dem Verlauf zufrieden ist. Spiel ist daher eine ideale Lernform, da es nicht oder sehr spät zur Ermüdung kommt. Wie bereits erwähnt, dient jedes Spiel auch der Bewältigung. Eine Szene, die vielleicht in der Realität schlecht ausging, kann solange wiederholt werden, bis sie ein positives Ende findet. Beispielsweise liegen uns Aufnahmen eines Jungen vor, dessen Familie in Spanien ausgeraubt wurde. Die Familie verlor damals so ziemlich alles, und der Junge erlebte den Überfall hautnah mit. Er bewältigte das traumatische Erlebnis, indem er die Szene immer und immer wieder nachspielte, ihr aber einen guten Ausgang gab. Beim Ritual werden (Spiel-)Handlungen übertrieben ausgeführt. Eine derartige Überzeichnung und genaue Einhaltung der Handlung wirkt stabilisierend.

Ein viertes Merkmal ist der Gegenstandsbezug. Kinder beziehen sich entweder allein oder gemeinsam auf einen Gegenstand. Diesen Umstand nutzen natürlich Spielzeughersteller, indem sie altersangemessenes Spielzeug und Gesellschaftsspiele produzieren, teilweise in kreativer, anregender Form, teilweise aber auch als „Schrott“. Freude und Spaß bilden übrigens kein allgemeines Merkmal für das Spiel, da auch Negativ-Erlebnisse bewältigt werden und Spiel durchaus auch Stress mit sich bringt (man denke an Wettspiele).

Spiel wird häufig zunächst mit dem Kinder- und Jugendalter verbunden. Oft entsteht der Eindruck, dass spielerische Tätigkeiten im Erwachsenenalter keinen Platz haben. Lässt das Interesse an Spielhandlungen im Erwachsenenalter nach oder verändert es sich nur?

Rolf Oerter: Das Spielverhalten lässt nicht direkt nach, sondern es verändert sich eigentlich. Spiel im Erwachsenenalter kann unterschiedliche Funktionen und unterschiedliche Formen haben. So spielen Erwachsene manchmal, weil sie im Leben bestimmte Dinge nicht erreichen. Sie kompensieren etwa beim Kartenspiel mit einem Sieg etwas anderes, das sie sonst nicht erreicht haben oder erreichen können. Das kann sich auf private wie auch berufliche Bereiche beziehen. Auch für Veranstaltungen wie die Fußball-Weltmeisterschaft, die ja in diesem Jahr stattfand, gilt, dass Spiele stellvertretend für etwas anderes stehen. So sind Wettkämpfe eine Art ritualisierter Kriege, die Gleichgewicht ohne Zerstörung wiederherstellen können. Ein weiterer Punkt ist die Regression im Sinne der Psychoanalyse. Der Erwachsene kehrt im Spiel zu einer früheren Entwicklungsstufe zurück. Das hat eine heilende oder auch kompensatorische Wirkung. Die entscheidende Form des Spiels im Erwachsenenalter aber ist seine Integration in andere „ernsthafte“ Tätigkeiten. So wird Spiel in kulturelles Schaffen integriert. Bereiche wie Kunst, Musik, Theater, Literatur oder das Bauen sind Fortführungen der kindlichen Spielhandlungen. Die Maler Miró und Paul Klee holten sich sogar Anregungen für ihre Werke aus Kinderzeichnungen. Analoges gilt für die Integration von Spiel in die Arbeit. Auch Forscher und Wissenschaftler im Allgemeinen spielen. Es geht bei ihnen nicht immer nur um harte Arbeit. Jede kreative Leistung beinhaltet Spielelemente. Alle Berufe, die in ihrer Tätigkeit einen „Spielraum“ haben, nutzen auch Elemente der Spielhaltung oder können sie zumindest nutzen.

Wenn man die beschriebene Entwicklung des Spiels im Kindes- bis hin zum Erwachsenenalter sieht und deren Bedeutung ernst nimmt, erscheint die Förderung spielerischer Tätigkeiten schon im Kleinkindalter unabdingbar. Werden die neuen Bildungspläne für den Elementarbereich, die bereits in einigen Bundesländern vorliegen, dem gerecht?

Rolf Oerter: Wir brauchen auf jeden Fall eine bessere Förderung im Vorschulbereich. Es gibt große soziale Unterschiede bei uns, und leider liegt Deutschland im internationalen Vergleich da sehr weit hinten. Aber bei dieser dringend notwendigen Förderung geht es um die richtige Form des Lernens: Kinder lernen inzidentell, das heißt beiläufig bzw. implizit, das heißt ohne bewusste Lernabsicht.

Gerade im Spiel stehen diese Lernformen im Vordergrund. Sowohl Spiel als auch andere Formen des beiläufigen Lernens sollten in der Förderung aufrecht erhalten werden. Pädagogische Fachkräfte, vor allem Lehrer, haben oft wenig Erfahrung damit. Während Lehrkräfte mit spielerischem Lernen zu wenig Erfahrung haben, regen Erzieherinnen zwar viel Spiel an, aber legen auf spielendes Lernen oft zu wenig Wert.

Die Ansätze in den Bildungsplänen sind im Grunde nur Lippenbekenntnisse. Da wird gesagt, dass Kinder spielerisch lernen sollen, aber wie dies geschehen soll, wird nicht erwähnt. Es ist nicht richtig, dass Vorschulkinder fachsystematisch lernen sollen. Im situativen Lernen können sich Kinder dieser Altersklasse spielerisch mit physikalischen oder chemischen Phänomenen auseinander setzen und dabei durchaus naturwissenschaftlich denken lernen. Es wäre gut, dem Spiel als Medium bzw. als Form der Auseinandersetzung auch später mehr Raum zu lassen. Dies ist aus meiner Sicht auch nach der Kindergarten- und Vorschulzeit nur möglich, wenn wir eine Ganztagsschule haben. Spielerische Handlungen können das Denken beweglich machen.

Beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule sollten spielerische Formen beibehalten werden. So könnten im Kindergarten bereits einige Elemente der Grundschule aufgenommen werden, doch sollte Spiel auch in den Schulalltag eingebaut werden. So entsteht eine Mischung von Spiel und Arbeit, die später die ideale Form der Arbeit im Erwachsenenalter darstellt.

Herzlichen Dank für das Gespräch!