Als die Piraten Batavia verließen

Vielleicht bin ich doch ein richtiges Mädchen. Ich mag weder Ponyhöfe noch Prinzessin Lillifee, aber mein dürftiges Wissen über Piraten musste ich mir nach der Geburt von drei Söhnen trotzdem mühsam aneignen. Alles, was ich bis dahin über Piraten wusste, spielte sich in Batavia ab, dem heutigen Jakarta. Aber zurück zum Anfang.

Als ich am Abend des 26. Mai 2018 irgendwo online eine kurze Notiz zum Brand im Europa-Park in Rust las, hatte Real Madrids Ramos Liverpools Stürmerstar Mo Salah gerade dienstunfähig getreten und leitete so den Anfang vom Ende der Liverpooler Champions League-Finalträume ein. Doch das war plötzlich nebensächlich (Liverpool verlor übrigens mit 1:3). „Wir haben Norwegen und Batavia komplett verloren“, ergänzte Freizeitpark-Betreiber Jürgen Mack nur kurze Zeit später. Batavia! Es war, als hätten die riesigen Flammen dem badischen Freizeitpark das Herz herausgefräst. Jene 7:30 Minuten-Bootsfahrt, die den Besucher durch die düstere Welt der niederländischen Kolonie Indien des 17. Jahrhunderts schipperte, dominiert von versoffenen, vergewaltigenden und ungehobelten Freibeutern, die ein Bild der Zerstörung hinterließen, wo auch immer sie sich gerade aufhielten. Nein, sympathisch waren die Protagonisten der Bahn sicherlich nicht. Welche Ironie, dass die Stofffigürchen, die den Park seit 1987 heimsuchten und Batavia anzündeten, nun ebenfalls Opfer der Flammen wurden! Trotzdem wähnte man sich in Sicherheit, die allenfalls kurz von einem fünf Meter niedrigen Wasserfall getrübt wurde, den die Boote passieren mussten.

Aber was hat das überhaupt mit Kindheit zu tun? Und mit Medien? Eigentlich alles. Denn während sich um uns herum alles veränderte, während 4D-Fahrgeschäfte Einzug in perfekt durchgestylte Freizeitparks hielten und wir plötzlich erwachsen wurden, blieben die „Piraten in Batavia“ eine nostalgische Oase der Ruhe. Unverändert. Trotz wütender Entereien und Gelage – in Batavia erholte man sich von stressigen Warteschlangen und quirligen Menschenmassen. Egal, ob Mann oder Frau, acht oder achtzig. Batavia war eine rosarote Wohlfühloase inmitten gründerzeitlicher Tristesse. Entsprechend groß war das Medienecho, dass sich parallel zu den realen Flammen im Netz ausbreitete. Je nach Couleur des jeweiligen Mediums ließ sich das Schlimmste vermuten – ein Inferno. Fast minütlich nahm ich an jenem Samstagabend mein Smartphone zur Hand, auf der Suche nach neuen Erkenntnissen. Dabei war die wohl vordergründigste Frage jene, warum mich der endgültige Untergang Batavias so berührte – und mit mir viele Freunde und Bekannte. Viele meiner Lieblingsfahrgeschäfte wurden im Laufe der Zeit geschlossen, weil sie nicht mehr zeitgemäß waren. Dass etwa „Back to the future – the ride“ im Jahr 2011 in den Universal Studios geschlossen wurde, weil 2015 nicht mehr wirklich als langfristig-utopisches Zukunftsszenario erschien, darauf konnte man sich noch irgendwie einstellen. Auch vom benachbarten E.T.-Ride konnte ich mich noch ordnungsgemäß verabschieden, bevor er einer neuen Attraktion weichen musste. Die Piraten in Batavia gingen ohne Vorwarnung – und nahmen ein Stück unserer Kindheit mit.

E-Mail ans Christkind

„Denkst du noch daran, einen Wunschzettel an das Christkind zu malen?“ Noch während ich die Worte spreche, sehe ich entsetzt meine Mutter vor meinem inneren Auge, die mir zuraunt: „Siehst du, jetzt hat es dich auch erwischt!“ „Mama, ich hab‘ doch heute Morgen schon eine E-Mail an das Christkind geschrieben!“ entgegnet mein fünfjähriger Sohn mit vorwurfsvollem Ton. Und ob es mich erwischt hat. Klammheimlich, ohne Vorwarnung, wurde ich als geheimnisvoller Mittler zwischen Kind und seinem himmlischen Pendant wegrationalisiert. Von wegen heimliche konspirative Treffen mit dem göttlichen Kind, bei denen Informationen über den Verhaltenszustand des Nachwuchses im zur Neige gehenden Jahr gegen selbstgemalte Wunschlisten getauscht werden. Keine geheimnisvollen Telefonanrufe oder Briefe aus Engelskirchen. Doch abgesehen von der Tatsache, dass mein Sohn faktisch noch keine E-Mails schreiben kann: Was sagt dieser Satz aus? Dass er mich ertappt hat und weiß, wie es um das Christkind steht, das Spiel aber freundlicherweise mitspielt, um mich nicht zu verärgern? Oder zumindest, um die erwarteten Geschenke nicht zu gefährden? Denn eins ist klar: Ohne Christkind (wahlweise: ohne Weihnachtsmann) – keine Geschenke. Oder schlicht, dass er grade keine Lust hat, einen Wunschzettel zu malen? Lange muss ich mir darüber jedoch keine Gedanken machen. Denn am Heiligen Abend steht er mit leuchtenden Augen am Fenster und wartet auf das Christkind.
In diesem Sinne: Frohe Weihnachten und alles Gute für das neue Jahr!

Musiklegendensterben

Mit Michael Jackson fing es an. Das ist nicht besonders verwunderlich, weil in meiner Kindheit und Jugend irgendwie alles mit Michael Jackson anfing ‒ oder zumindest aufhörte. Er war da, als ich eingeschult wurde, bei meiner Konfirmation, bei der ersten Party ‒ wenn auch nicht physisch. Dabei war ich nicht mal ein Fan. Trotzdem traf es mich tief, als am Morgen des 25. Juni 2009 aus Gerüchten traurige Gewissheit wurde. Der King of Pop hatte das Gebäude verlassen. Diesmal jedoch nicht in Form eines Konzertsaales, sondern gleich das ganze irdische Gebäude. Horizontal. Der Startschuss für ein bisher in dieser Dichte nie gekanntes Ableben höchstprominenter Musikgrößen. David Bowie, Prince, George Michael, the incredible Hagen, Wölli, Chuck Berry. Und dabei vergesse ich sicherlich die Hälfte. Und jetzt auch noch Tom Petty! Seitdem werde ich das Gefühl nicht los, dass hier ein Schema vorliegt. Womöglich hat Satan in seiner begrenzten Kompetenz eine Rockstar-Quote eingeführt, um Platz zu schaffen für weitere D-Casting-Promis. Oder irgendwann rächt sich ein unorthodoxer Lebensstil doch mal. Oder Rockstars sind am Ende tatsächlich doch auch nur Menschen.
Als Kurt Cobain 1994 ‒ natürlich mit 27 ‒ starb, war ich 17. Damals wunderte sich keiner so wirklich darüber, verkörperte der Nirvana-Frontman doch einen Lebensstil, der von vorne herein nicht darauf ausgelegt war, das 30. Lebensjahr zu erreichen. Jackson, Bowie, Petty, Prince und George Michael erreichten immerhin das ältere Erwachsenenalter, wie es in der Entwicklungspsychologie heißt; Chuck Berry wurde sogar 90. Da kann man mit sowas schon mal rechnen. Vielleicht schwingt da aber noch ein anderer Aspekt mit. Wenn meine Helden der Jugend mal die 50 erreicht haben, heißt das unweigerlich im Untertitel: „Du selbst bist ja auch keine 18 mehr.“ Da reicht aber schon ein Blick auf die eigene Nachzucht.
Ich könnte meine Kinder in dem Glauben erziehen, es habe nie einen King of Pop gegeben. Sie würden aufwachsen in der Gewissheit, dass irgendein DJ Vollhonk musikmäßig das Non-plus-Ultra sei. Wenn ich ihnen erzählen würde, Michael Jackson sei der Name für ein Duschgel, würden sie es mir erstmal glauben. Wahrscheinlich liegt hierin auch ein Bildungsauftrag, der zugegebenermaßen regelmäßig medial torpediert wird: Rockmusikgeschichte. Das ließe sich im musischen Bereich in sämtlichen Bildungs- und Erziehungsplänen verankern. Ein schöner Traum.

Und Action…

Solange man das Alter von Kindern noch ohne die Hilfe eines Taschenrechners in Monaten angeben kann, wird die Liste der ersten Male oft ad absurdum geführt: das erste Mal „Aa“ ins Töpfchen, der erste Trotzanfall, der erste Brech-Durchfall…
Etwa mit dem Kindergarteneintritt wird die Liste kürzer, aber auch individueller. Während mein Mann noch dem ersten Stadionbesuch entgegenfieberte, bereitete ich mich kürzlich auf etwas viel Bedeutenderes vor: den ersten Kinofilm meines fast fünfjährigen Sohnes. Als ich selbst zum ersten Mal die heiligen Hallen unseres winzigen, nach einer Mischung aus Popcorn und kaltem Rauch stinkenden, Kleinstadtkinos betrat, war ich sieben. Die Leinwand schien kaum größer, als ein 55-Zoll-Flat-TV, unter meinem Sitz breitete sich die Cola-Lache vom Hintermann aus und die durchschnittliche Quote lag pro Vorstellung bei etwa fünf Filmrissen. Und so dauerte „Santa Claus“ statt der angegebenen 95 Minuten schon mal zwei Stunden dreißig.
Das ist heute anders. Filmvorführer ist nicht mehr unbedingt der tollste Job der Welt, aber die Geruchssituation in den Sälen wurde deutlich modifiziert – ebenso wie der Umfang der Leinwand. Allerdings wäre das Kinoerlebnis beinahe schon vorbei gewesen, bevor es richtig beginnen konnte. Aus dem spärlich beleuchteten, vollständig leeren Kino schallte uns der Soundtrack von „Pirates of the Carribean“ entgegen. Kurz bevor meinem Sohn die Gesichtszüge vollständig entgleisen konnten, grätschte ich zum Platzanweiser und beschwerte mich etwas lautstärker als geplant. Vielleicht waren die folgenden FSK 6-Trailer die Rache. Welche Wohltat, als Bob der Baumeister endlich in die Kamera winkte. Jetzt würde alles gut werden! Mein Sohn presste seinen kleinen Körper gegen den samtbezogenen Kinosessel und starrte mit großen Augen auf die Leinwand, ohne jemals die etwas zu überdimensionierte Popcornschachtel loszulassen. Zweifel machten sich bemerkbar. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Bob der Baumeister hatte etwa zwei Tage Zeit, um einen riesigen Steinbruch zu sprengen und in einen Stausee inklusive eines Staudammes zu verwandeln, der gut und gerne dem „Hoover Dam“ hätte Konkurrenz machen können. Nebenbei musste er sich noch mit arroganten Sub-Unternehmern und depressiven Baumaschinen auseinandersetzen. Doch Bob kann sowas. Ein bisschen überraschend war es trotzdem, denn bis dahin hatte ich nur einmal erlebt, dass Bobs ambitionierter Zeitplan ins Wanken geriet – damals, als er zusammen mit Wendy einen Gartenzaun bauen sollte.
Mit jedem Stein, den Bobs Team aus dem Hochhausener Steinbruch abtrug, schob sich mein Sohn etwas weiter nach vorne. Am Abend des ersten Bauabschnittes hatte auch ich mich entspannt. Und am Ende der 60 Minuten, waren mein Sohn und das Kino Freunde geworden.

Lieber Johnny, …

„Lieber Johnny, heute habe ich vergessen, mein Tagebuch zu schreiben.“ Dieser Satz ist wahrscheinlich die Triebfeder für diesen Blog. Haben Sie als Kind auch Tagebuch geschrieben? So richtig mit dem neu erworbenen Füller von Lamy oder Pelikan und einem gebundenen Buch mit Linien? Aber nicht die großen, die man in der Grundschule verwenden musste, weil sich sonst die Schreibschrift über die ganze Heftseite gezogen hätte. Mein erstes Tagebuch war beige, mit einem niedlichen Teddybär-Mädchen drauf, das einen Hut trug, den ich zwanzig Jahre später in der neuesten Kollektion von Vivienne Westwood wiederzuentdecken glaubte. Das pastell-rosafarbene Kleid glitzerte sanft vor sich hin. Allerdings nur so lange, bis ich das Buch zum ersten Mal in meinen roten Scout-Ranzen steckte und sich der ohnehin recht lose Glitzer-Kleber über mein Mathebuch ergoss. Es hatte weder einen Akku, noch Batterien. Es ließ sich nicht abschalten und reagierte nicht auf Sprachbefehle. Selbst dann nicht, wenn man genervt davor saß und hineinbrüllte, weil es einen schon wieder nicht verstand. Und das Beste war: Es bestand vollständig aus Papier! Wenn es voll war, legte man es zum Verstauben ins Regal ‒ ein Speicher-Upgrade war nur durch stümperhafte Bastelarbeiten möglich. Und da kaufte man doch besser gleich ein neues.
In diesem Tagebuch, das ich kürzlich beim Aufräumen fand, gibt es Hinweise auf Besuche bei meiner Oma und die damit verbundene Aussicht auf saure Gummi-Pommes, das damalige Fernsehprogramm und Meckie-Comics in der „Hörzu“. Doch der mit Abstand am meisten verfasste Satz darin ist: „Heute habe ich vergessen, mein Tagebuch zu schreiben.“ Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich damit sagen wollte. Vielleicht nichts. Vielleicht war es eine Art der Entschuldigung bei meinem gebundenen Freund, der übrigens über mehrere Bände hinweg Johnny hieß, für die vermutete Vernachlässigung. Oder eine Rechtfertigung dafür, stattdessen andere Dinge getan zu haben, die ich heute nicht mehr benennen kann, weil ich sie eben nicht aufgeschrieben habe. In jedem Fall ist es aber der unmittelbare Ursprung, die Motivation für diesen Blog. Ich hole nach, was ich damals nicht getan habe. Was hat sich seitdem tagebuchmässig geändert? Saure Pommes mag ich immer noch. Auch das Fernsehprogramm. So sehr, dass ich mich auch beruflich gelegentlich damit beschäftige. Den Lamy-Pelikan-Füller haben jetzt allerdings meine beiden Söhne, die zwar noch nicht schreiben können, aber ungefähr drei Tage nach ihrer Geburt schon wussten, wie man You Tube auf einem iPad anklickt. Wenn sie in die Grundschule kommen, werden sie Tinte vermutlich nur noch vom Hörensagen kennen. Ein guter Grund, es doch noch mal zu versuchen. Sicherheitshalber nehme ich mir erstmal einen Eintrag pro Monat vor, sodass es nicht so auffällt, wenn ich einen Tag vergesse. Damit sich dieser Satz nie mehr wiederholt.

Am Anfang…

Als ich vor fünf, sechs, vielleicht auch ein paar mehr Jahren selbst noch ein Kind war, ließ sich die (Medien-)Welt noch ganz gut einteilen: Buch = gut; elektronische Medien = böse. Zeitschrift: so mittelgut, je nach Inhalt. (Wobei uns die Geschichte lehrt, dass man auch mit Büchern bösen Unfug treiben kann.) Damit hatten unsere Eltern die uneingeschränkte Legitimation, uns bis zur Vorschulzeit aus dem Fernsehen und dem, was man später mal Computer nennen würde, rauszuhalten. Das war überschaubar: Es gab drei Programme mit jeweils etwa zwei Stunden Kinderprogramm am Mittag und eine Handvoll Computerspiele. Leicht hatten sie es auch nicht, aber heute bekommt ein Kind etwa fünf Minuten nach der Geburt ein Smartphone vor die Nase gehalten, damit sechs Minuten später auch Onkel Philimon in Südafrika den neuen Erdenbürger begrüßen kann. Ein paar Tage später folgt die erste Erwähnung in der lokalen Tageszeitung. Und das Tempo beschleunigt sich sukzessive: Vor drei Jahren wies mich mein damals zweijähriger Sohn daraufhin, dass er jetzt unbedingt auch mal ein Handy bräuchte (Bevor Sie fragen: Er hat auch mit fünf noch keines.). Sein kleiner Bruder konnte etwa drei Wochen nach seiner Geburt bereits ein iPhone besser bedienen, als meine Mutter mit 65. Und das, obwohl ich mich als Medienpädagogin tunlichst darum bemühe, den Medienkonsum so gut wie irgend möglich einzuschränken und auszuwählen. Tagtäglich begegnen den Kindern Smartphones, Tablets, Fernsehprogramme, Computerspielkonsolen ‒ und wir Eltern müssen irgendwie darauf reagieren. Ein Patentrezept gibt es nicht. Also hilft nur die Flucht nach vorn: Medien als Chance begreifen und die Kinder befähigen, sie sinnvoll zu nutzen. Ich möchte Sie herzlich dazu einladen, mich bei diesem Versuch zu begleiten. Mal mag er gelingen, mal kläglich scheitern ‒ so what?!

P.S.: Abends bestehen meine Jungs übrigens darauf, dass ich ihnen vorlese ‒ ganz klassisch, aus „echten“ Büchern.